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Praxistag Community Music - Wissenschaftliche Dokumentation
Spielräume zwischen Musikkulturen, Interpretation und freier Gestaltung

Johanna Borchert, Nora Leinen-Peters

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1. Einleitung

Im Rahmen des Praxistags „Community Music – Spielräume zwischen Musikkulturen, Interpretation und freier Gestaltung“, der am 29.01.2022 an der Technischen Hochschule Köln stattfand, wurden auch wissenschaftliche Perspektiven auf die Community Music vorgestellt. Dabei spielten verschiedene theoretische Blickwinkel auf das Thema der Improvisation im Kontext Community Music eine Rolle. Im Folgenden sollen diese vorgestellt werden, indem zunächst das Vorgehen der Forscher*innen beschrieben wird, um anschließend die unterschiedlichen Blickwinkel auf die Improvisation darzustellen, wie sie auch beim Praxistag Community Music präsentiert wurden. Letztlich sollen daraus weitere Fragen und Anregungen für die Forschung und wissenschaftliche Kommunikation im Feld der Community Music und als Reflexionspotentiale für Praktiker*innen in der Community Music abgeleitet werden.

 

2. Einführung in das Datenmaterial und die Methodik

Ausgehend von der Frage nach ästhetischen Qualitätsmerkmalen in Gruppenimprovisationsprozessen und deren Messbarkeit fand ab Ende Oktober 2021 in Triangulation dreier Forscher*innenperspektiven eine Sichtung verschiedener Videos statt. Das interinstitutionelle Forschendenteam setzt sich zusammen aus Prof. Dr. Franz Kasper Krönig (TH Köln), Johanna Borchert (wissenschaftliche Mitarbeiterin der HfM Freiburg) und Nora Leinen-Peters (wissenschaftliche Mitarbeiterin der HMT Leipzig).

Die Videos zeigen Gruppenimprovisationsprozesse aus dem Projekt Musikativ aus drei verschiedenen Settings. Zum einen improvisierte eine Gruppe von Musiker*innen verschiedenen Alters miteinander („Sounds of Buchenheim“ [1]). Sie wurden dabei von zwei Personen angeleitet und improvisierten in drei Runden zu unterschiedlichen Impulsen (Methoden). Außerdem wurden Videos von einer TeenBand[2] unter Anleitung zweier Personen sowie Videos von einer YoungsterBand[3] (ebenfalls angeleitet von zwei Personen) gesichtet und analysiert.

Die Ausgangsidee für den Triangulationsprozess war die Frage, ob musikalisch-ästhetisch „besondere“ Momente in den Videos zu erkennen und von anderen zu unterscheiden sind und darüber hinaus auch, ob diese Wahrnehmungen zwischen den drei Forscher*innen geteilt wurden. Die identifizierten Momente, die alle drei Forscher*innen gleichermaßen als musikalisch interessant empfanden, wurden weiter befragt. Da sich die Wahrnehmung der drei Personen im Wesentlichen deckte, bot dies ein Hinweis darauf, dass diese Momente intersubjektiv als besonders wahrgenommen werden können. Ausgehend von diesen ausgewählten Momenten entwickelten sich dann wiederum drei verschiedene theoretische Perspektiven auf das Material, von denen zwei im Rahmen des Praxistages Community Music an der TH Köln präsentiert und zur Diskussion gestellt wurden.

 

3. Die praxeologische Brille

Eine der wissenschaftlich-theoretischen Perspektiven, durch die das Datenmaterial betrachtet werden kann, ist die praxeologische bzw. praxistheoretische. Die theoretischen Hintergründe dieser Perspektive beziehen sich hier auf die Ausarbeitungen des Soziologen Andreas Reckwitz und können vertiefend in seinen Publikationen nachgelesen werden (Reckwitz, 2003, S. 282ff.). In einer praxistheoretischen bzw. praxeologischen Sichtweise besteht das Alltagshandeln von Menschen aus einzelnen Praktiken, die in ihren losen Zusammenhängen Praxen ausmachen. So gibt es etwa die Praktik des Umrührens, die Praktik des Abschmeckens, die Praktik des Schneidebrettchen-mit-der-Rückseite-des-Messers-Abschabens. All dies gehört oft zur Praxis des Kochens. Die Praxis des Kochens muss aber nicht immer alle diese Praktiken beinhalten. So kann ein Nudelgericht mit Pesto aus dem Glas gekocht werden, ohne überhaupt ein Schneidebrettchen zu verwenden, aber umgerührt wird zumeist dennoch. Es wird also ersichtlich: eine Praxis besteht nicht aus Wissens-, sondern aus Könnensbestandteilen. Kaum jemand wird sich Karteikarten zu den einzelnen Praktiken der Koch-Praxis einprägen. Viel eher werden die einzelnen Praktiken durch Nachahmen zum Beispiel der Eltern oder Großeltern erlernt, zumeist auch nicht im Detail reflektiert. Reckwitz bezeichnet dies auch als „‚implizite[...]‘, ‚informelle[...]‘ Logik des sozialen Lebens“ (Reckwitz, 2003, S. 290). Diese theoretischen Überlegungen lassen sich auch auf musikalische Kontexte übertragen. Natalia Ardila-Mantilla bezieht die praxeologische Sichtweise etwa auf Musikvereine, in denen einzelne Praktiken untereinander weitergegeben werden. Ein neu dazu kommendes Musikvereinsmitglied erlernt Stück für Stück die Praxis des Musikvereins, indem es durch Nachahmung (unbewusst) die Praktiken der etablierten Mitglieder übernimmt und so in die „Community of Practice“ hineinwächst (Ardila-Mantilla, 2016, S. 558). Diese Überlegungen beziehen sich auf die „Theorie des situierten Lernens“ (Ardila-Mantilla, 2016, S. 423).

Ebenso könnte vermutet werden, dass solch eine Community of Practice auch in der Community Music entsteht, indem bestimmte Praktiken des Musizierens untereinander weitergegeben werden und dabei nicht explizit besprochen oder reflektiert werden müssen, also implizit bleiben. Der Vergleich von improvisierten Schlussbildungen innerhalb der drei in Videobeispielen aus der Arbeit der Offenen Jazz Haus Schule gezeigten Methoden eröffnet ein besonders interessantes Beobachtungsfeld. In diesen Methoden wurden jeweils verschiedene Improvisationen durchgeführt, die mal mehr, mal weniger angeleitet wurden. Die auf dem Video aufgezeichneten Improvisationen sollen nachfolgend beschrieben werden, um sie dann aus praxeologischer Perspektive miteinander zu vergleichen.

 

3.1 Methode 1

In Methode 1 wird ein Gedicht vertont. Die Musiker*innen sitzen im Kreis mit Blickrichtung zueinander. Zu Beginn entsteht ein arhythmischer Klangteppich in harmonisch Moll, der bei Minute 10:30 des Videos pausiert wird, dann wird das Gedicht Stück für Stück vorgelesen. Beim Vorlesen des Gedichts durch eine*n der Musiker*innen, wird der Klangteppich teils pausiert, teils ausgedünnt fortgeführt [z. B. 11:45-11:50]. Danach wird er wieder dichter und lauter, hier ist nach wie vor kein Metrum zu erkennen. Der Klangteppich reicht über das Ende des Gedichts [13:49] hinaus. Am Ende der Improvisation dünnt sich der Klangteppich aus [15:29-16:03], bis nur noch ein gestrichener Ton liegen bleibt [-16:08]. Dann entsteht ein Moment der Ruhe und es erklingt ein Schlusston durch ein Perkussionsinstrument, gespielt von einer Mitspielerin in der Mitte des Raumes (siehe Abbildung 1) [16:20-16:23].

Abbildung 1

Abbildung 1: Ende Methode 1

 

3.2 Methode 2

Die Methode 2 „Dirigat“ besteht aus 4 musikalischen Sätzen, die ineinander übergehen. Die Methode ist stärker angeleitet als die vorherige. Vor Beginn der Improvisation werden die Struktur der Improvisation und die Dirigierzeichen [00:00-11:10] von den beiden Anleitenden, die im Folgenden auch das Dirigat übernehmen, erklärt. Nach einem kurzen Stimmen der Instrumente [11:10-11:24] beginnt dann die Improvisation mit dem Klappern der Saxophonklappen, die wie zuvor abgesprochen Beginn [11:28-12:03] und Ende [28:56-29:47] der Improvisation markieren. Dann beginnt der erste Satz (die „Tonsäule“ [12:00-17:17]), bei dem die Saxophone gemeinsam einen Ton halten und die anderen Instrumente auf Anleitung kurze Töne dazu spielen. Zum Ende des ersten Satzes entsteht eine kurze Pause [17:17-17:27] im Übergang zum zweiten Satz „1 bis 8“. Bei „1 bis 8“ [17:27-20:17] wird eine klare 4/4-Taktstruktur von einem Anleitenden vorgegeben. Die Musiker*innen spielen einen (vorerst immer gleichen) Ton auf eine von ihnen gewählte Zählzeit und wiederholen dies in jedem Takt. Auf das dadurch entstehende Begleitpattern spielen einzelne Musiker*innen auf Zeichen des Anleitenden hin Soli. Zum Ende des zweiten Satzes werden zunehmend weitere Solist*innen simultan „aktiviert“ und die Intensität mittels Dirigats gesteigert, womit in den dritten Satz „Von Chaos zu Ordnung“ übergeleitet wird. „Von Chaos zu Ordnung“ [19:59-24:18] beginnt mit dem durch das Dirigat des zweiten Satzes eingeleiteten intensiven und lauten Durcheinanderspielen der Musiker*innen. Daraus ergibt sich sukzessive eine Struktur, eingeleitet durch die Rhythmusangabe einer Instrumentalistin [21:36-21:44], die anschließend in Form eines Rhythmuspatterns vom Schlagzeug übernommen wird [21:41]. Der vierte Satz „Eternum?!“ [24:09-29:12] unterbricht abrupt die entstandene Struktur des dritten Satzes. Ein Saxophon-Quartett (siehe Abbildung 2) spielt ein einstudiertes Stück gemeinsam.

Abbildung 2

Abbildung 2: Saxophonquartett und eine der Anleitenden (mittig)

Bei der vorherigen Absprache zu diesem Satz erhielten die anderen Musiker*innen die Aufgabe, dieses Stück zu „stabilisieren“ oder zu „stören“. Im Verlauf des vierten Satzes gehen alle in eine gemeinsame Improvisation über. Zum Schluss der Improvisation klingt ein einzelner Ton aus, dann setzt wieder das besprochene Klappern der Saxophonklappen [28:56-29:47] ein. Zu Beginn ist dieses noch gemischt mit anderen eher perkussiven Geräuschen (Regenmacher) zu hören, später alleine stehend bis zum Ende der Improvisation [29:47].

 

3.3 Methode 3

In Methode 3 wird ein in Echtzeit entstehendes Bild (siehe Abbildung 3) vertont. Dazu bemalen vier zuvor ausgewählte Personen aus dem Kreis der Musiker*innen nacheinander eine Leinwand, während die anderen das Gemalte musikalisch interpretieren. Mit Beginn des Malens (nach einem Fehlstart) beginnt auch die Improvisation [06:57]. Sie ist kontinuierlich, ohne dass die Wechsel zu Malerin 2 [10:33], 3 [12:59] und 4 [16:19] durch Pausen markiert werden. Zum Schluss, bei der eigentlichen Beendigung der Malphase von Malerin 4 durch ein vorher abgesprochenes Zeichen (hochgehaltene rote Karte) hört Malerin 4 nicht auf, sondern malt weiter, und auch die Musiker*innen setzen die Improvisation fort. Die Anleitende, steigt auch wieder in die Improvisation ein, bis Malerin 4 zum Ende kommt [21:00]. Kurz darauf ist auch die Improvisation vorbei. Nach Beendigung der Malaktion durch Malerin 4 erklingt nur noch ein liegender gestrichener Ton [21:19]. Ein vorbesprochener weiterer Teil [00:00-06:55], in dem die Improvisation in Aspekten rekapituliert werden sollte, findet nicht statt.

Abbildung 3

Abbildung 3: Entstandenes Bild aus Methode 3

 

3.4 Vergleich der Methoden

Für den Vergleich der drei Improvisationen soll der Fokus nun auf dem jeweiligen Ende liegen. Die drei Improvisationen sind grundsätzlich recht unterschiedlich in ihrem Grad an Anleitung, in ihrer Vorbesprechung und in ihrem Ablauf. Gegen Ende weisen jedoch alle drei Improvisationen ein gemeinsames Element auf: einen stehenden Ton. In Methode 1 bleibt dieser übrig, als sich der Klangteppich ausdünnt. In Methode 2 gibt es ebenfalls einen stehenden Endton, bevor schließlich nur noch perkussive Instrumente und die Saxophonklappen zu hören sind. Und auch in Methode 3 beendet ein liegender, gestrichener Ton die melodiösen Anteile der Improvisation. Diese Beobachtung ist insofern interessant, als auch alternative Enden denkbar wären, beispielsweise durch Wiederholung einer kleinen Melodie, die immer wiederholt und letztlich immer leiser wird (im Sinne eines Fade-Out) oder durch eine Steigerung im Tutti, das abrupt mit einem gemeinsamen lauten Ton endet.

Die Wahl fällt in diesen gemeinsamen Improvisationen aber stets auf den stehenden Endton, sodass sich aus praxeologischer Perspektive folgende Fragen ergeben:

  • Gehört die „Praktik des stehenden Endtones“ zur Praxis der Improvisation im Community Music-Kontext? Es wäre beispielsweise denkbar, dass es sich unausgesprochen etabliert hat, so zu enden und dass diese „Tradition“ nun innerhalb der Community Music weitergetragen wird.
  • Auf welchen Kontext/welche Kontexte referiert diese Praktik? Möglicherweise ist der stehende Endton auch eine Anleihe aus einem anderen musikalischen Bereich. Beispielsweise enden Choräle, die auf der Orgel gespielt werden, oft mit einem länger gehaltenen Ton. Sicher ließen sich auch weitere Kontexte finden, in denen ein stehender Endton das Ende von Stücken oder Improvisationen markiert.
  • Welche Alternativen gäbe es, um eine Improvisation zu beenden? Einige Möglichkeiten wurden oben bereits beschrieben. Vielleicht gibt es praktische Gründe, warum zum Beispiel ein gemeinsamer lauter Abschluss nicht stattfindet.
  • Vielleicht ist es riskanter, weil nicht alle den Moment des Aufhörens gleichzeitig treffen würden? Daraus ergibt sich wiederum die Frage, ob die Entscheidung, mit einem stehenden Endton zu enden, eine genuin musikalische, oder eher eine Praxis-bedingte ist? Ist es eine musikalische Geschmacksentscheidung der Gruppe, in allen drei Fällen einen stehenden Endton zu etablieren?
  • Oder hat sich diese Praxis einfach als funktionierende Schlussbildung in Community Music-Zusammenhängen etabliert, die die Teilnehmer*innen entsprechend oft so erlebt und dann übernommen haben?

Diese Fragen zielen nicht auf die Bewertung, ob es eine „gute“ oder „schlechte“ Entscheidung war, diesen stehenden Endton zu spielen. Sie sollen vielmehr Reflexionsmöglichkeiten andeuten, um die Community Music als solche und als Praxis besser zu verstehen und darüber nachzudenken, inwiefern die improvisatorischen Entscheidungen, die in so einer Improvisation gemeinsam und auch einzeln getroffen werden, tatsächlich musikalische Entscheidungen sind.

 

4. Die resonanztheoretische Brille

Die Grundthese der Resonanztheorie des Soziologen Hartmut Rosa ist, dass das Erleben und die Reaktionen auf das „mit-der-Welt-in Beziehung-sein“ anhand der drei Kategorien „Resonanz, Indifferenz und Repulsion“ (Rosa, 2016, S. 298) beschrieben werden kann. Resonanz stellt dabei als Kategorie eine gelingende Form der Weltbeziehung dar, in der es zu einem wechselseitigen Antwortverhältnis zwischen Selbst und Welt kommt. Dieser Erfahrungsmodus zeichnet sich nach Rosa durch „Affizierung und Emotion, intrinsisches Interesse und Selbstwirksamkeitserwartungen“ (ebd.) aus, während die anderen Modi der Weltbeziehung (Indifferenz und Repulsion) als Entfremdung verstanden werden. Hierbei ist der Kontakt zwischen Welt und Selbst gestört. Das Subjekt lässt sich nicht ansprechen oder wird nicht angerufen, erfährt sich nicht als Selbstwirksamkeit (zur Antwort fähig) und steht somit den Weltausschnitten innerlich unverbunden gegenüber. Die ästhetischen Felder Kunst und Musik sind nach Rosa zu elementaren Erfahrungsfeldern moderner Gesellschaften geworden, in welchen die Menschen ein spezifisches, resonantes Weltverhältnis abseits der Steigerungslogik spätmoderner Gesellschaften suchen. Aufgrund einer konstituierenden Unverfügbarkeit von Resonanzmomenten können bei der Analyse im Hinblick auf Resonanzmomente begünstigende oder eher hinderliche Faktoren beschrieben und ausgewertet werden. Denn „[d]as Wesen von Resonanzmomenten birgt ein Unverfügbares im doppelten Sinne: zum einen sind diese nicht planbar oder didaktisch herstellbar, zum anderen ist der Ausgang eines solchen Momentes nicht vorhersagbar“ (Schrott & Leinen-Peters, 2021, S. 38).

Nimmt man Situationen von Gruppenimprovisationen aus resonanztheoretischer Perspektive unter die Lupe, kann nur rekonstruierend überlegt werden, ob die beteiligten Menschen im Raum mit dem musikalischen Gegenstand und untereinander eine Resonanzbeziehung eingegangen sind (Schrott & Leinen-Peters, 2021). Eine Möglichkeit ist es zu untersuchen, mit welchen Mikro-Situationen die Forschenden selbst in eine Art Resonanz treten (ebd.). Dieser Versuch wurde von den Forscher*innen im Rahmen ihres Forschungsprozesses unternommen (s. o.). Als Referenzpunkt für die detailliertere Untersuchung von Musiziermomenten ergab sich, dass die Forschenden bestimmten Momenten eine besondere ästhetische Intensität zuschrieben. Die Anschlussfrage lautete, wie sich diese Musiziermomente artikulieren und ob ihnen auch ein künstlerischer Gehalt[4] innewohnt.

Es handelt sich bei diesen identifizierten Momenten zunächst einmal um eine bestimmte Qualität ästhetischen Erlebens, die vielen musizierenden Menschen vertraut sein dürfte. Beschreibungen von Musiker*innen und befragten Kolleg*innen, aber auch vereinzelten Studien folgend, handelt es sich um Erleben, das bspw. wie ein kurzzeitiger Kontrollverlust erfahren wird. Oder aber als eine Beziehung, in der von der entstandenen Musik ein Aufforderungscharakter ausgehen kann, dass ein bestimmtes Reagieren und Handeln vorgibt, wie folgendes Zitat darstellt: „wenn die Musik von mir jetzt gerade verlangt, dass ich einen bestimmten Klang mach’, den ich noch nie gemacht hab’, dann muss ich mir halt überlegen [...] was ich jetzt gerne dazu machen möchte [...] und das klappt manchmal ganz gut und manchmal eben nicht.“ (Figueroa-Dreher, 2016, S. 215f.) In diesem Zusammenhang wird auch ein Gefühl beschrieben, das man nicht die Musik spielt, sondern diese einen selbst spiele.

In dieser Beschreibung schwingt eine bestimmte Art des Involviertseins in die Musik mit, das auffordert, in einer bestimmten Form zu reagieren. Mit der Brille der Resonanztheorie kann man diese intensiven Momente als kurzzeitige Momente einer gelungenen musikalischen Selbst-Weltbeziehung beschreiben.

Was können folglich begünstigende Bedingungen sein, dass resonantes Musizieren möglich wird?

Bei Wolfgang Rüdiger (2015) finden sich die Kategorien Selbstöffnung und Selbstrelativierung als die Balance von bewusstem sich zurückhalten und einem aktiv werden, als dasjenige, was jene musikalischen Qualitäten wie Durchhörbarkeit und Dichte, Stille und Fülle, Reduktion und Rasanz ermöglicht. Auch wird an anderer Stelle die Mischung aus Intuition und Bewusstheit beschrieben, die einen Zustand ermöglichen, bei dem sich Unvorhergesehenes nicht einfach vollzieht, sondern eine packende Qualität oder transformatorische Kraft haben kann (vgl. Mäder et al., 2013). Im Rahmen der Forscher*innentriangulation wurde deutlich, dass die von den Forschenden als „intensiv, spannend, künstlerisch“ bewerteten Situationen u. a. durch eine gesteigerte Interaktion der Musizierenden bestimmt waren.

Hier liegt auch der methodische Grund für die Fokussierung der Beobachtung auf Improvisationssituationen: Interaktionsentscheidungen, die sich aus dem musikalischen Material und seiner Entwicklung in Echtzeit ableiten, stellen einen konstitutiven Faktor von Improvisationsprozessen dar. Denn hierbei muss das individuelle Handeln prinzipiell im Rahmen der Wechselwirkung zwischen Ensemblemitgliedern als Antwort auf das musikalische Material der Mitspielenden erfolgen.

Interaktionsmodi beim Improvisieren regeln die Aushandlungen des Prozesses. Nach Figueroa-Dreher (2016) regeln Interaktionsmodi die musikalischen Aushandlungsprozesse beim Improvisieren. Dazu gehören imitieren, integrieren/folgen, sich zurückhalten, das Gegenteil tun und etwas Verschiedenes tun (Figueroa-Dreher, 2016, S. 254ff.). Wenn Musiker*innen diese Modi beherrschen gehen sie häufig in unbewusste, intuitive und leibliche Entscheidungsvorgänge über, die während des Improvisierens wesentlich sind. Der Aufbau von intuitiven Fähigkeiten beruht auf Erfahrungen, die sich aus vielen kleinen Erlebnissen aus der Praxis zusammensetzen. Die zentrale Kategorie auf Subjektseite dafür ist die Wahrnehmung bzw.  das Hören in seinen verschiedenen Formen, die Martin Weber als „Verfolgen des eigenen Spiels“, „identifizierendes Hören“, „Vorweghören“ und „Beziehungshören“ beschreibt (Weber, 2020, S. 142ff.). Diese Hörweisen verweisen auf den engen Zusammenhang zwischen Hören und Interagieren beim Improvisieren. Denn die Musizierenden müssen in der Lage sein, sowohl das eigene Spiel in Echtzeit zu verfolgen als auch das sich im Raum vollziehende Klanggeschehen in Beziehung zum eigenen Spiel hörend aufzufassen, um eine wirkliche Antwort-Beziehung einzugehen. Ein sich regelmäßig an die Improvisationsphasen anschließender Reflexionsprozess kann zugleich einen wichtigen Beitrag zur Steigerung etwa der Wahrnehmungsfähigkeit, des Bewusstseins für Interaktionsvorgänge sowie für die Beschaffenheit des musikalischen Materials leisten.

Im Folgenden soll anhand zweier Sequenzen die Minimalvoraussetzung an Interaktion für improvisierendes Musizieren aufgezeigt werden. Hierbei handelt es sich um die Bezugnahme. Im Sinne eines einfachen Reaktionsmodells heißt dies: etwas reagiert auf etwas anderes. Die musikalische Situation ist dadurch kurzzeitig nicht mehr beliebig und indeterminiert, man kann also von Ansätzen einer bewussten Gestaltung sprechen, ohne dass das Unverfügbare der Situation abhandenkäme.

Es handelt sich bei der ersten Sequenz um die letzte Stunde eines TeenBand-Projekts an einer Kölner Schule. An dem Projekt beteiligt sind Schüler*innen der Mittelstufe sowie professionelle Musiker*innen, die zusammen mit Pädagogi*innen die Improvisation leiten. Das Instrumentarium umfasst E-Bass, zwei Keyboards, E-Gitarre, Gitarre, Schlagzeug, Posaune, Cello (hinterm Vorhang rechts nicht sichtbar, grob wahrnehmbar Instrumente des kleinen Schlagwerks, u. a. Kuhglocke).

 

4.1 Sequenz 1

Die ausgewählte Sequenz betrifft die Wiederholung einer bereits vorher in derselben Probe erfolgten Improvisation. Die Spielregel der ausgewählten Sequenz lautet, lange Töne zu spielen, je nach Resonanzmöglichkeit des jeweiligen Instrumentes. Dazu wird der Vorschlag addiert, leise und laute Töne als „Ausreißer“ oder „Würzung“ hinzuzufügen.

Abbildung 4

Abbildung 4: Interaktionen in der Bandprobe

Die Sequenz beginnt mit einem von der Posaune gespielten langen, geraden Ton im Mezzoforte [28:11-28:29], der vom Cello aufgegriffen wird (grüne Pfeile). Das Cello setzt kurze Zeit später [28:32] einen weiteren Gestaltungsimpuls durch einen leicht crescendierenden Ton, der direkt von der Posaune mit einem tieferen crescendierenden Ton aufgegriffen wird (orangene Pfeile). Dieser ist ebenfalls klanglich und in der Artikulation differenziert. Es folgt ein dritter Impuls, ein Pizzicato der Cellistin [28:46], welcher mit einem lauten tiefen Pizzicato von E-Bass und Gitarre beantwortet wird (rote Pfeile).

Die Pfeile verdeutlichen die Reihenfolge der Bezugnahme. Interessant an dieser Situation erscheint auch, dass die Musizierenden keinerlei Blickkontakt oder körperlich-räumliche Zugewandtheit zu den anderen zeigen. Die Bezugnahme als Minimalform musikalischer Interaktion erfolgt rein auditiv.

 

4.2 Sequenz 2

Diese Sequenz zeigt die „Methode 3“ (s. o.) [12:19-13:46], die darauf abzielt, dass durch freies Malen künstlerische Impulse/Ideen als Ausgangspunkt für eine Improvisation der Musizierenden gesetzt werden. Dafür malen in einer vorher festgelegten Reihenfolge vier Personen für die Dauer einer Minute auf einer Leinwand (Sanduhr zeigt die Zeit). Die Improvisation beginnt, sobald die erste Person malt. Die hier beschriebene Passage beginnt mit dem Wechsel von Person 2 zu Person 3.

Abbildung 5

Abbildung 5: Setzen eines künstlerischen Impulses

Person 3 entschließt sich, einen gelben Halbkreis, der vermutlich als Mond zu interpretieren ist, mit brauner Farbe zu übermalen. Schlagartig ändert sich mit dieser Aktion das Timbre der musizierenden Gruppe und somit auch die Situation als solche. War die Musik vor dem Wechsel der Malerin nicht deutbar und eher beliebig „durcheinander“, ändert sich mit dem Übermalen des Kreises die Stimmung der Improvisation hin zu düsterer und perkussiverer Musik. Hier kann angenommen werden, dass die Malerin 4 eine bewusste künstlerische Idee setzt, die von den Musiker*innen als eine intentionale wahrgenommen und interpretiert wird, woraufhin das Kollektiv mit einer Änderung der musikalischen Gestaltung antwortet. Es findet hier also eine kurze, gelungene künstlerische Interaktion (Bezugnahme auf einen gesetzten Impuls) statt.

 

5. Fazit und Ausblick

Während des Praxistages bot sich die Gelegenheit zur teilnehmenden Beobachtung einer angeleiteten Praxis-Session der Tagungsteilnehmer*innen im Plenum durch die Forscher*innen. In diesen sind einige Parallelen zum beforschten Videomaterial aufgefallen. Die Forscher*innen haben beispielsweise die initiale gemeinsame Improvisation beobachtet und dort Elemente dessen wiedergefunden, was sich bereits in den analysierten Videomaterialien andeutete. Etwa endete die Improvisation auch hier mit einem stehenden Endton.

Auch wurden in der Praxis-Session ähnliche Interaktionsmuster wie in den beforschten Videosequenzen beobachtet. Die Session wurden zum Großteil von zwei Personen dirigiert/angeleitet. Die beobachteten Interaktionsmodi zwischen den Teilnehmenden sind im Wesentlichen als Bezugnahmen auf das musikalische Angebot der Mitspielenden zu verstehen. Somit bleibt die weitere Analyse der Frage, ob in der Anleitung der Session limitierende Faktoren für das Entfalten eines Raumes vielfältiger Interaktionsformen lagen, oder welche weiteren Faktoren zu dieser Limitierung an Interaktion geführt haben könnten.

So können weiterführende zu erforschende Fragen sein:

  • Wie beeinflusst die Methode der angeleiteten Improvisation die musikalische Interaktion?
  • Ist sie tendenziell öffnend oder schließend? Ist sie Resonanzen ermöglichend oder verhindernd?
  • Inwiefern wird im Rahmen angeleiteter Improvisationen tatsächlich auf Grundlage innermusikalischer Bezugnahmen improvisiert und wie kann das begünstigt werden?

Insgesamt blieben auch bei den formellen und informellen Diskussionen im Rahmen des Praxistages einige Fragen offen, die ein Potenzial zur Reflexion der Methoden und Vorgehensweisen in der Praxis bieten können. So wäre an einigen Stellen bei den beobachteten Workshops und Improvisationssessions eine ästhetische Reflexion der Improvisationen spannend gewesen. Auch für weitere wissenschaftliche Auseinandersetzungen können die Fragen einen Impuls setzen, um eine tiefergehende Beschäftigung mit den eigenen (impliziten) Logiken, Qualitäten und Potenzialen von Community Music zu initiieren:

  • In welche Richtung verschiebt sich die Qualität der Improvisation, wenn anstelle der Anleitung von Methoden mit dem Verständnis von Spiel gearbeitet würde?
  • Welche ästhetisch-künstlerischen Ziele werden in Projekten der Community Music verfolgt?
  • Welche Qualitätskriterien machen die Improvisation in der Community Music aus und inwieweit sind diese musikalisch-ästhetisch?
  • An welchen Parametern orientieren sich Entscheidungen innerhalb musikalischer Improvisationen im Community Music Kontext?

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Literaturverzeichnis

Ardila-Mantilla, N. (2016). Musiklernwelten erkennen und gestalten: Eine qualitative Studie über Musikschularbeit in Österreich (p. 558). Münster: LIT Verlag.

Bertram, G.W. & Rosenberg, M. (2021). Improvisieren! Lob der Ungewissheit. Stuttgart: Reclam.

Dartsch, M. (2019). Didaktik künstlerischen Musizierens. Leipzig: Breitkopf & Härtel.

Figueroa-Dreher, S. (2016). Improvisieren. Material, Interaktion, Haltung und Musik aus soziologischer Perspektive. Wiesbaden, Springer VS.

Kurt, R. & Näumann, K. (Hrsg.) (2008). Menschliches Handeln als Improvisation. Sozial- und musikwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld, transcript Verlag.

Mäder, U., Baumann, C. & Meyer, T. (2013). Freie Improvisation. Möglichkeiten und Grenzen der Vermittlung. Luzern (Forschungsbericht der Hochschule Luzern-Musik, 5).

Reckwitz, A. (2003). Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Zeitschrift für Soziologie, 32(4), 282.

Rosa, H. (2016). Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp.

Rosa, H. (2013): Beschleunigung und Entfremdung Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. 1. Aufl., neue Ausg. Berlin: Suhrkamp.

Rüdiger, W. (2015). Ensemble & Improvisation. Regensburg: ConBrio.

Schrott, S. & Leinen-Peters, N. (2021). Inklusiver Musikunterricht aus resonanzpädagogischer Perspektive. Kombination hoch und niedrig inferenter Verfahren zur Untersuchung von Qualitäten inklusiven Musikunterrichts am Beispiel eines Klassenmusizierprojekts. Bozen: bupress Verlag.

Weber, M. (2020). Musikalische Improvisation im Kontext inklusiver Pädagogik. Köln: Allitera Verlag.

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[1] „Sounds of Buchheim“ ist ein Projekt der Offenen Jazz Haus Schule, bei dem Menschen jeden Alters mit unterschiedlichen kulturellen, sozialen und Bildungshintergründen mit und ohne musikalische Vorkenntnisse mit professioneller Unterstützung kostenfrei gemeinsam Musik machen. Vgl. URL (abgerufen am 14.2.2023): https://jazzhausschule.de/soziokultur-aktuelle-projekte/635-sob-urban-comunity-music

[2] In den TeenBands der Offenen Jazz Haus Schule spielen Kinder und Jugendliche ab der weiterführenden Schule. Vgl. URL (abgerufen am 14.2.2023): https://jazzhausschule.de/musikschule/gruppen-ensembles/jugendgruppen/93-teenband

[3] Als YoungsterBands werden in der Offenen Jazz Haus Schule Bands mit Grundschulkindern bezeichnet. Vgl. URL (abgerufen am 14.2.2023): https://jazzhausschule.de/musikschule/gruppen-ensembles/kindergruppen/205-youngsterband

[4] Im Sinne der Verfeinerung und dem Streben nach Verschmelzung in Dartschs Begriff des künstlerischen Musizierens (vgl. hierzu: Dartsch, 2019. Didaktik künstlerischen Musizierens. Breitkopf & Härtel).

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Der Praxistag „Community Music – Spielräume zwischen Musikkulturen, Interpretation und freier Gestaltung“ war eine Veranstaltung der Kölner Philharmonie in Kooperation mit der Offenen Jazz Haus Schule, der TH Köln, dem Gürzenich-Orchester Köln und der Landesmusikakademie NRW.

Johanna Borchert

Johanna Borchert ist seit 2020 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Musikvereine als Orte kultureller Bildung“ an der Hochschule für Musik Freiburg tätig. Im Rahmen ihres Promotionsprojekts beschäftigt sie sich mit Kooperationen in der kulturellen Bildung aus der

Perspektive von Musikvereinen. Johanna Borchert studierte 2015-2020 Musik, Germanistik und Bildungswissenschaften an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig und der Universität Leipzig.

Nora Leinen-Peters

Nora Leinen-Peters ist seit Oktober 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Musikpädagogik und -didaktik an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig. Darüber hinaus hatte sie Lehraufträge am Institut für Förderpädagogik und am ZLS der Universität Leipzig. Vor ihrer Tätigkeit an der HMT Leipzig studierte sie Lehramt Schulmusik und Sonderpädagogik in Leipzig (2012-2017). Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in dem Bereich der inklusiven Musikpädagogik sowie der Schnittstelle Schulmusik/Elementare Musik- und Tanzpädagogik mit Veröffentlichungen zu inklusivem Musikunterricht und Resonanzpädagogik.