Der blinde Detektiv
Hörspielworkshop für Jugendliche von 10-15 Jahre
„Wie klingen die Rhythmen unserer Stadt? Was hören wir, wenn wir die Augen schließen? Wir hören erstmal ein großes Durcheinander. Dann unterscheiden wir die U-Bahn, ein Motorrad, eine Waschmaschine, Tasten auf der Computer-Tastatur, eine WC-Spülung, Hundegebell, Papageien, Rufe in vielen verschiedenen Sprachen, schlagende Türen, die Kasse im Supermarkt und vieles, vieles mehr. Alles hat einen Rhythmus: man muss ihn nur finden. Und das Ganze, die ganze Stadt, ist nur beim ersten Hören ein Chaos für die Ohren - wenn man genauer hinhört, hört man Wiederholungen, man hört laute und leise Klänge, lange und kurze, nahe und ferne.“
15. - 18. Oktober 2018
Leitung: Dirk Raulf
(aus der Projektbeschreibung)
Schule des Hörens
Der erste Schritt auf dem Weg zu unserem Hörspiel bestand aus einem Hör-Spiel. Wir bewegten uns im öffentlichen Raum, schlossen die Augen, stellten fest, wie sich unsere Hör-Wahrnehmung ändert, wenn wir konzentriert lauschen. Es ging um das Erkennen der Geräusche bzw. Klang-Landschaften, um Parameter wie Lautstärke, Richtung, Dichte, Bewegung, Überlagerung von Klängen. Es ging um menschliche, maschinelle, künstliche oder natürliche Klänge, um Unterscheidungsvermögen, fokussiertes Hören, um die Fähigkeit, auch leise Klänge gezielt in den Vordergrund zu rücken und lautere Klänge auszublenden usw.
Insgesamt standen also die Erfahrung eines bewussteren Hörens und eine Analyse unseres konzentrierten Lauschens im Unterschied zum alltäglichen Hören am Beginn der Arbeit.
Hör-Vorlieben
Die Teilnehmer brachten am zweiten Tag von ihnen favorisierte Hörspiele oder Hörbücher mit, die wir ausschnittweise gemeinsam anhörten und ebenfalls analysierten: Wie werden Geräusche und Musik eingesetzt, wie ist das Mischungsverhältnis zur Sprache, wie stelle ich mit wenigen, ausgewählten Geräuschen eine ganze Welt dar, wie arbeiten die Sprecher, wie wird mit Rhythmen und Pausen umgegangen usw. Hier wurde durch das Hören und Analysieren auch ein Prozeß der Bewusstmachung angestoßen, der aus bloßen Konsumenten kritisch hörende Beobachter werden lassen kann und im besten Fall dazu führt, billige Effekte von aufwendig und liebevoll gestalteter Klangkunst zu unterscheiden und langfristig eigene Kriterien und einen vertieften Hörgenuss zu entwickeln.
Geräuschaufnahmen und -analysen
Im zweiten Schritt wurden Geräusche und Geräuschfelder gesammelt. In Kleingruppen wurden Klänge in der Umgebung aufgenommen, im zweiten gemeinsam angehört, analysiert und geordnet. Verwendet wurden portable Aufnahmegeräte (Zoom, Edirol R-09) sowie portable, leicht handhabbare Mikrofone, die besonders geeignet sind für Feldaufnahmen (OKM II). Dieses Equipment erlaubt unauffällige und vor allem praktikable Aufnahmen.
Entweder nach Zufallsprinzip, aufgrund eigener Einfälle oder nach thematischen Vorgaben wurden u. a. Plätze, Verkehr, Passanten, Supermarkt, Baustellen, Gastronomie, Passanten u. dgl. aufgezeichnet.
Beim gemeinsamen Anhören und der Analyse der Aufnahmen wurde festgestellt, welche eher gelungen waren und welche weniger, aber vor allem warum, um diese Aufnahmen ggfs. in besserer Qualität zu wiederholen. Neben der Qualität der Aufnahmen wurde festgestellt, dass sich häufig andere Geräuschfelder als erwartet boten. Beim Hören stellten sich die akustischen Hierarchien in einer Weise dar, die den Teilnehmern im Moment der Aufnahme so nicht bewusst gewesen war. Das distanzierte, nachträgliche, unabhängige Hören ohne Zuhilfenahme der anderen Sinne (Sehen, Riechen etc.) veränderte die Wahrnehmung der Aufnahmen. Daraus ergaben sich Fragen wie z. B. nach einer möglichen Trennung von Geräuschen, die es ermöglicht, selbst das gewünschte Mischungsverhältnis, die imaginierte Klangwelt zu definieren und zu gestalten. Oder nach der Planbarkeit einer Aufnahme, also danach, wie man, falls gewünscht, den Zufall ausschalten oder aber in das Konzept von vornherein als Möglichkeit integrieren könnte. Fragen also, die dem improvisatorischen Musizieren verwandt sind!
Die Aufnahmen boten über die technische Analyse hinaus aber oft schon Inspirationsquellen für die noch zu entwickelnde Geschichte. So wurde beispielsweise die unfreundliche Reaktion von Supermarkt-Mitarbeitern gegenüber den dort aufnehmenden Kindern zum Ausgangspunkt für die Idee, einen Teil des Hörspiels im Supermarkt spielen zu lassen und dort auch den Täter zu suchen. Aber auch ein Beinahe-Unfall, die Geräusche einer nahen Baustelle oder von Tieren (Vögeln, Hunden) boten Stoff für die Geschichte.
Die Tatsache, dass wir selbst in der Stadt als Geräuschesammler unterwegs waren, und der Ausgangspunkt des Hörens mit geschlossenen Augen (s. o.) führten zur Grundidee eines blinden Detektivs, der seine visuelle Einschränkung - wie wir selbst beim Hören mit geschlossenen Augen erfahren konnten - durch außergewöhnliche Fähigkeiten seines Gehörs kompensiert. Eine Art „Superheld“ also, vergleichbar den einschlägigen Comic-Figuren, die zumeist durch Unfälle oder Traumata geprägt sind und, um zu überleben, außergewöhnliche, ja übermenschliche Fähigkeiten entwickeln. Dieses gängige Superhelden-Prinzip zu untersuchen und selbst einen Charakter zu entwickeln, der aus unserer Erfahrungswelt stammt, aber Züge dieser Charaktere trägt, war einer der inhaltlichen Nebenschauplätze der Arbeit. Auch hier also Bewusstmachung eines medialen Prinzips (Superheld) und Entwicklung einer eigenständigen Phantasie zu diesem Thema statt bloßer Konsumentenhaltung.
Die Geschichte
Der Ausgangspunkt der Geschichte, für den wir uns entschieden, war:
Ein blinder Junge von 14 Jahren sammelt und archiviert Geräusche und wird dabei eher durch Zufall zum Detektiv, nämlich, indem er auf einer seiner Aufnahmen ein ungewöhnliches Geräusch identifiziert. Ich erzählte den Teilnehmern von dem Film „Blow Up“1, in dem ein Fotograf auf einem seiner Bilder beim Entwickeln eine Merkwürdigkeit entdeckt und auf diese Weise zufällig zum Zeugen eines Verbrechens wird.
Es brauchte neben der Grundidee und der Hauptfigur eine Vorgeschichte und einen konkreten Plot. Der Unfall, der zur Erblindung führte, wurde von den Teilnehmern erfunden; gleichzeitig entstand auch die Geschichte der Freundschaft des Detektivs zu seinem Hund. Dieser war zuerst der Anlass für den Unfall, wurde dann zum besten Freund und Blindenführer des „Detektivs“ und hatte auch am weiteren Verlauf der Geschichte entscheidenden Anteil. Vorbilder wie „Fünf Freunde“, „Lassie“ oder „Großvater und die Schmuggler“ spielten hier natürlich eine Rolle.
Entscheidend für die Entwicklung des „Falls“ um den Schmuggel exotischer Tiere waren Anregungen, die von den Kindern kamen. Notwendige Details und Informationen (etwa: was passiert eigentlich mit Tieren, die der Zoll findet?) wurden recherchiert. Dass die Täter mit leitenden Mitarbeitern des Supermarkts im Bunde waren, lag auf der Hand. Mit fortschreitender Geschichte wurden gezielt weitere notwendige Aufnahmen gemacht (übrigens nun auch mit ausdrücklicher Genehmigung der Leitung des Markts) und, wo nicht möglich, recherchiert. So wurden diverse exotische Tierstimmen online gefunden, etwa auf einer Plattform wie Freesound2, einem auditiven Online-Tausch-Forum, wo Klänge für nicht-kommerzielle Zwecke zur Verfügung gestellt werden.
Sprachaufnahmen
Das Entwickeln der Geschichte und des konkreten Textes, also der Erzählung und der Dialoge, geschah in groben Zügen gemeinsam. Nach der notwenigen dramaturgischen Überarbeitung nahmen die Teilnehmer alle Stimmen selbst auf - alle sprachen wechselnd den Erzähler, Dialoge wurden aufgeteilt. Neben gemeinsamen Aufnahmen im Kreis, also quasi einer Studio-Situation, wurden situative und szenische Aufnahmen gemacht, an denen ebenfalls alle teilnahmen. So z. B. in der Eigelsteintorburg aufgenommen, wie der Protagonist mit seinem Hund die Treppe hinunterkommt. Es wurden Gegenstände auf ihre klanglichen Eigenschaften untersucht und mit den Sprachaufnahmen kombiniert - also das klassische Arbeitsfeld eines Geräuschemachers oder neudeutsch-fachsprachlich foley3. Es wurden aber auch Entscheidungen getroffen wie z. B. der Einsatz von Musik als Spannungsmoment für die Auseinandersetzung im Supermarkt statt einer aufwendigen Geräusch- und Sprachdramaturgie, also eine Kombination von „Mauerschau“4 bzw. Erzählung des Hergangs mit atmosphärisch passender, in diesem Fall „Spannungs“-Musik.
Bei den Sprachaufnahmen mussten die Teilnehmer nicht nur erfahren, was es heißt, diszipliniert und variabel zu sprechen (und auch: leise zu sein…), sondern auch, Passagen bis zu einem befriedigenden Ergebnis zu wiederholen, Situationen zu imaginieren, eine Erzählerstimme von konkret-situativem Sprechen und dialogischer Auseinandersetzung zu unterscheiden usw.
Mischung und Schnitt
Das gesamte Audio-Material, also Sprache, Geräusche, Musik, wurde gespeichert und am Rechner mit einem gängigen Bearbeitungs- und Schnittprogramm (Logic Pro X) zusammengefügt. Klangeffekte, mit denen die Aufnahmen und Geräusche zusätzlich versehen werden können (Hall, Echo, versch. Räume), wurden demonstriert und passend eingesetzt. Die Gleichzeitigkeit von Sprache und Geräuschen bzw. Musik, die man als Zuhörer in der Regel als gegeben annimmt, wurde in allen Details erfahren und nachvollzogen: so aufwendig kann es also sein, wenn ein Dialog auf einem öffentlichen Platz stattfindet, wo man gleichzeitig noch Vögel, Passanten, Straßenmusiker und ggfs. die Erzählstimme hört.
Wenn alle Klänge einzeln vorliegen: wie werden sie geordnet, was ist im Vorder- oder Hintergrund zu hören, was rechts und links, laut und leise, was bewegt sich im Hör-Raum, wie „sauber“ müssen die Aufnahmen sein, wie bekomme ich all die akustischen Eindrücke zu einem verständlichen Klang-„Bild“ verschmolzen, das genau die Geschichte erzählt, die ich mir vorstelle?
Was die Schnitt-Technik angeht: Wie vermeide ich technische Störungen im Schnitt, wie schaffe ich Übergänge, welche Arten von Blenden gibt es (Auf-, Ab-, Kreuzblenden usw., neudeutsch fade out, fade in, crossfade)? Wo und warum ist ein harter Schnitt/Cut einem sanften, allmählichen Übergang vorzuziehen und umgekehrt? Wo will ich das Geschehen beschleunigen, wo beruhigen und mit welchen Mitteln? Was ist der gewünschte Effekt, und wie erreiche ich ihn? Zusammengefasst: Fragen danach, mit welchen Mitteln ich den gewünschten Inhalt transportiere.
Vor- und Abspann
Schließlich wurden noch Titel und Titelmusik entschieden und der Vor- und Abspann gemeinsam gesprochen und eingearbeitet, um das ca. 13minütige Hörspiel professionell abzurunden. Abschließend wurde „Der blinde Detektiv“ einem kleinen, begeisterten Publikum vorgeführt und im Nachgang mit Genehmigung der Teilnehmer und ihrer Eltern online auf Youtube auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht5.
Reflexion
Form und Thema des Workshops - Kinder und Jugendliche entwickeln ein Hörspiel - waren ungewöhnlich und herausfordernd. Insbesondere die Vielfalt der Anforderungen legt für die Zukunft nahe, die Teilnehmer noch stärker in Gruppen auszuteilen, so dass z. B. eine Gruppe gezielt Feldaufnahmen macht, während eine andere schon die Sprachaufnahmen schneidet und eine dritte an der Musik arbeitet. Unter Umständen sollten hier also zwei Dozenten parallel arbeiten.
Wünschenswert wäre, dass die Teilnehmer Musik und Studio-Geräusche (im Sinne eines Geräuschemachers) selbst entwickeln könnten, wozu bei diesem Workshop die Zeit fehlte.
Technischerseits bräuchte es ergänzend einfach zu bedienende Aufnahmegeräte oder Smartphones mit angemessener Tonqualität sowie einen Schnittplatz/Rechner, an dem die Teilnehmer noch selbständiger Schnitt und Bearbeitung der Aufnahmen und die gesamte Realisierung des Hörspiels lernen und vornehmen könnten. Auch bei Ton- und Aufnahme-Regie gilt es, die Teilnehmer noch mehr zu beteiligen, also noch eigenständiger Entscheidungen treffen zu lassen. Dies alles im Hinblick darauf, dass sowohl Prozess als auch Ergebnis weitgehend selbst verantwortet werden, die Teilnehmer also in möglichst breitem Umfang zu „Machern“ ihres Hörspiels werden können.
Köln, im November 2018
Anmerkungen:
1 Blow Up, Spielfilm von Michelangelo Antonioni (1966)
3 Nachvertonen von Geräuschen in Film, Fernsehen, Hörspiel
4 Begriff aus dem Schauspiel: Bericht einer Figur (klassischerweise von einem erhöhten Standpunkt aus) über ein live stattfindendes Geschehen, das für das Publikum nicht zu sehen ist. Bspw. für die Schilderung von Schlachtenszenen im Theater eingesetzt; aber auch die Radio-Fußball-Reportage in Vor-Fernsehzeiten könnte man als M. bezeichnen.
5 https://www.youtube.com/watch?v=kvElXfZTeRg
veröffentlicht von: Offene Jazz Haus Schule, Rainer Linke
©2019: Offene Jazz Haus Schule, Dirk Raulf
Lektorat: radiX editorial köln
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